Das Märchen vom genialen Geistesblitz

Design Thinking heißt vor allem: ein Problem verstehen wollen.

„Aber so richtig innovativ ist das jetzt nicht!“ Dieser Satz, den ich im Rahmen einer „Wallet-Übung“ * gehört habe, kam nicht vom „Kunden“, sondern vom „Entwickler“. Er war – ganz im Gegenteil zu seinem Gegenüber – mit seinem Ergebnis äußerst unzufrieden. Sein selbstgesetzter Anspruch von „echter Innovation“ wurde nicht erfüllt. Stehen wir uns also manchmal selbst im Weg, wenn wir kunden- und nutzerzentrierte Lösungen entwickeln wollen?

Innovation ist (fast) nie der überraschende Big Bang

Dieses kleine Erlebnis beschäftigt mich bis heute und ist für mich ein mahnender Fingerzeig für Gespräche und Projekte mit meinen Kunden. Denn es herrscht die Vorstellung, Innovation sei etwas ganz Außergewöhnliches, der eine große Big Bang, auf den wir hinarbeiten müssen bzw. den wir durch Kreativitätsmethoden herbeizwingen wollen … darunter machen wir es nicht.

Das führt zwangsläufig zur Enttäuschung oder sogar zur Lähmung, wenn das ganze Innovations-Unterfangen aussichtlos scheint: aufgrund der bestehenden Strukturen, der  vorhandenen Mitarbeiter oder des verfügbaren Budgets. Und dabei übersehen und verschenken wir die vielen kleinen, aber hochwirksamen Chancen, die wir in der Verbesserung unserer Produkte und Service-Angebote haben. Für die unsere Mitarbeiter wertvolle Hinweise geben können. Für die überschaubares Budget häufig ausreicht. Und die in Summe möglicherweise bei unserem Kunden das hervorrufen, was wir auch hören wollen: „Das ist genau das, was ich brauche!“

Das Optimum an Erreichbarem sozusagen. Für unsere Nutzer, unsere Kunden. Unser Ego, das nach der sensationellen und spektakulären Idee sucht, müssen wir dann aber – bitteschön – beiseitelassen.

Wie entstehen Innovationen?

Dabei hilft es, wenn wir uns Folgendes immer wieder bewusst machen:

  1. 95 Prozent aller Innovationen entstehen durch eine neue Kombination von bereits Bestehendem. Dies gilt für Produkte genauso wie für Services. Und auch auf Geschäftsmodelle lässt sich das anwenden. „The St. Gallen Business Model Navigator“ basiert mit seinen 55 Archetypen beispielsweise genau auf dieser Annahme.
  2. Je mehr Iterationen ein Innovationsprozess durchläuft, desto höher sind die Aussichten auf eine am Markt erfolgreiche Innovation.

Es gibt keine geniale Idee, sondern nur viele gute Experimente

Wie lässt sich das nun im Unternehmen praktikabel umsetzen? Der Schlüssel dazu sind Experimente. Für mich sind der Begriff und das Konzept des „Experiments“ das, was den Innovationsprozess am besten trifft:

Was wir brauchen, sind viele gute Experimente.

 

 

Denn ein Experiment ist ein strukturiertes und gezieltes Vorgehen, eine Versuchsanordnung, kein planloses Herumprobieren und Fantasieren. Einem Experiment liegen gewisse Annahmen zugrunde, die ich vorab durch Erforschung, durch einen „Research“ gewonnen habe. Und aus diesen Annahmen habe ich meine Schlüsse gezogen und Lösungsideen entwickelt. Von denen ich jedoch nicht weiß, ob sie richtig sind bzw. eine gute Lösung in diesem Kontext darstellen. Dies werde ich auch nicht rational a priori entscheiden können, sondern ich muss es herausfinden … und dazu dient das Experiment. Denn das Experiment ist nur dann ein Experiment, wenn der Ausgang tatsächlich offen ist: „You don’t know if it’s gonna work. And you know upfront that you don’t know if it’s gonna work.” (Jeff Bezos)

Damit wird auch der reine Begriff des Scheiterns ad absurdum geführt. Schließlich lernen wir, egal wie das Experiment ausgeht, dazu. Wir müssen uns also nur noch auf ein überschaubares und kalkulierbares Risiko einlassen und dieses Risiko im Sinne eines Experiments planen und auswerten.

Was heißt das konkret?

Ob Experimente stattfinden können oder nicht, ist zuallererst eine Frage der Führung. Erst dann ist es sinnvoll zu fragen, welches Team die geeigneten Stärken und die notwendige Leidenschaft mitbringt.

Führungskräfte schaffen den Rahmen, in dem sich Innovation entwickeln kann oder eben nicht. Dazu braucht es Vertrauen und die Bereitschaft zum Risiko. Mit Planung und Kontrolle alleine wird es mit der Innovation schwer werden.

Innovationsfähigkeit und Innovationskultur lassen sich also  an folgenden Indikatoren gut erkennen:

  • Wie oft finden Experimente statt?
  • Wie viele Iterationen durchlaufen neue Ideen?
  • In welchem Verhältnis stehen die Erfolge im Verhältnis zum Gesamt-Portfolio?

 

Reed Hastings, Netflix-CEO, kritisierte vor wenigen Monaten erst, dass der Prozentsatz der Erfolge seines Unternehmens zu hoch und es an der Zeit wäre, an innovativen Unterhaltungsformaten zu arbeiten, die auch einmal scheitern könnten. Und er gab seinem Content-Team Folgendes mit: „Ihr solltet mehr Dinge machen, die nicht funktionieren. Ihr solltet aggressiver werden.“ Schließlich war der Wille, Risiken und Scheitern auch anzunehmen, von Beginn an ein wichtiger Erfolgsfaktor für Netflix.

Innovationskultur beginnt also immer beim Management.
Was hindert Sie eigentlich daran, morgen mit dem Experimentieren anzufangen?

 


*Die „Wallet-Übung“ ist ein Design Thinking Schnelldurchgang, der von der d.school in Stanford entwickelt wurde und bei dem man gut eine Stunde Zeit hat, um für seinen Übungspartner den perfekten Geldbeutel zu entwickeln. Vom Interviewen und Sich-Hineinversetzen in sein Gegenüber, von der Formulierung des Bedürfnisses als „Point of View“ bis hin zur Generierung und dem Feedback der Ideen sowie einem Prototyping wird alles in wenigen Minuten durchlaufen und dadurch erlebbar.