Probleme sind Herausforderungen und Krisen sind Chancen? Angesichts von Corona klingen diese phrasenhaften Formulierungen mehr als unpassend. Keiner von uns hätte einen solchen „Anstoß“ gebraucht.
Was hat sich verändert?
Menschen arbeiten verteilt, der persönliche Kontakt ist dabei stark reduziert, die Kommunikation ergibt sich nicht mehr zufällig, bisherige Pläne ändern sich radikal, neue Pläne müssen immer wieder revidiert werden, die gesamte Lage ist schwer einzuschätzen. Neue Lösungen erfordern das Zusammenspiel unterschiedlichster Disziplinen, die möglicherweise vorher noch nichts miteinander zu tun hatten und Führungskräften bleibt nun aus der Entfernung gar nichts anderes mehr übrig als auf Selbstverantwortung und Selbstorganisation zu bauen und zu vertrauen.
Bei all dem sind Geschwindigkeit und Anpassungsfähigkeit wichtiger denn je, schließlich geht es in vielen Fällen tatsächlich um die Existenz. Wie in einem Zeitraffer laufen genau die Veränderungen jetzt ab, die sich schon angebahnt haben und die wir in der Theorie oft besprochen hatten. Die Digitalisierung ermöglicht uns in dieser Krise weiterhin Kommunikation und Zusammenarbeit – rein technisch. Doch genau wie bei den gefühlt ewig zurückliegenden Diskussionen zur Digitalen Transformation wird jetzt klar: Diese Veränderung wird zwar von der Technik ermöglicht, geschieht aber letztendlich in unserer Haltung und unseren Formen der Arbeit und Zusammenarbeit. Und an diesem Punkt des Veränderungsprozesses stehen wir nun. Gezwungenermaßen.
Was will agiles Arbeiten?
Agiles Arbeiten und agile Projektorganisation wollen genau das erreichen: weg von langwierigen Planungen, die sich schnell überholt haben, hin zur Generierung von Werten auf Basis des aktuellen Stands von Erkenntnissen. Weg von Vorgaben im Detail hin zu Transparenz in der Ausrichtung und dem Einfordern der Selbstverantwortung und -organisation von Teams. Weg von umfangreicher Dokumentation und ineffizientem Berichtswesen hin zu persönlicher und direkter Kommunikation auf Augenhöhe.
Je mehr Freiheit wir wollen oder geben müssen, desto mehr Struktur müssen wir im Gegenzug als Rahmen schaffen. Das agile Vorgehensmodell bietet uns genau das an.
Und konkret?
Wir müssen nichts neu erfinden, alles ist erprobt und bewährt. Gelegentlich braucht es eine kleinere Adaption oder ein paar Überlegungen zu geeigneten Tools. Hier drei Beispiele:
- Daily Standup
Das tägliche kurze Treffen eines Teams, um abzustimmen, woran jeder arbeitet, was zu klären ist und wo es Hindernisse gibt, die aus dem Weg geräumt werden müssen. Aktuell kein Problem mit einer kurzen Videokonferenz, die die Teilnehmer dann auch stehend durchführen, um die Lebendigkeit und Kürze dieses Meetings remote ebenso sicherzustellen. Der gemeinsame Start in den Arbeitstag, die Struktur im Home-Office, die schnelle Verbindung zu dem, woran die Kollegen arbeiten, das Abstimmen von Terminen, die für alle in ihre jeweiligen Tagesabläufe passen. Tagesabläufe, die mehr Abstimmung brauchen als je zuvor, weil sie noch viel komplizierter geworden sind dank Home-Schooling und all den anderen Probleme, die es gerade noch so „nebenbei“ zu managen gibt. - Retrospektive
Der Prozess und die kontinuierliche Verbesserung der Zusammenarbeit sind ein zentrales Element im agilen Arbeiten: „inspect & adapt“, also Vergangenes überprüfen und das eigene Verhalten anpassen. Wann braucht man das mehr als zu einer Zeit wie dieser, in der wir völlig neue Formen der Zusammenarbeit einführen müssen? Selbstverständlich funktioniert noch nicht alles perfekt – und das muss es auch nicht. Jetzt gilt es, gemeinsam zu reflektieren und neue Ansätze zu finden und auszuprobieren. Bis zur nächsten Retrospektive in zwei Wochen. Das Schema dafür hatten wir sonst immer auf Flipchart oder Metawand. Wir wissen, wie es geht. Und jetzt wenden wir es in anderem Kontext an und kleben eben virtuelle Post-its in Online Collaboration Tools. Die Moderation ist gegebenenfalls anzupassen, aber das ist von heute auf morgen machbar. - Sprint Planning
Die Planung flexibel anpassen und in jedem Zeitintervall (von 1-4 Wochen) zu werthaltigen Ergebnissen kommen, das ist das Ziel des sogenannten Sprint Plannings. Dabei werden vom Team eigenverantwortlich die erreichbaren Ziele geplant. Durch die regelmäßigen Termine des Plannings lässt sich gut „auf Sicht fahren“.
Gerade in verteilten Teams, wie wir sie aktuell zwangsläufig haben, sind die enge Einbindung in die Planung und das damit verbundene Commitment entscheidend. Genauso wie die Überprüfung der tatsächlich erreichten Ergebnisse und der nächsten Ziele in kurzen Zeitabständen. Etwas, das durch dieses Format effizient und auch auf Entfernung möglich wird – dank Hilfsmitteln wie Videokonferenzen und virtuellen Boards, die sich innerhalb von Minuten freischalten und erstellen lassen.
Eines bleibt uns trotzdem nicht erspart
Agiles Arbeiten bedeutet vor allem klare Struktur und konsequente Umsetzung. Daran ändert auch die neue Situation nichts. Sie kann uns nur helfen, weil jetzt Nachlässigkeiten viel deutlicher sichtbarer werden und damit stärkere Auswirkungen haben als vorher in der Theorie.
Umso wichtiger ist die Rolle des Scrum Masters in diesen Zeiten. Als „Wächter über den Prozess“ und als derjenige, der Hindernisse aus dem Weg räumt, um die Performance des Teams sicherzustellen bzw. wiederherzustellen unter neuen schwierigeren Bedingungen. Eine Einführung dieser Rolle hat heute sofort sichtbare Effekte, wenn sie pragmatisch angegangen wird. Dazu braucht es jetzt keine Online-Scrum-Master-Zertifizierung, sondern nur etwas Handwerkszeug, die Grundprinzipien als Orientierung unseres Handelns und das Vertrauen auf die Selbstorganisation der Mitarbeiter.