Was die Dieselaffäre mit Design Thinking zu tun hat

Die Komplexität des Problems verstehen – dann Lösungen suchen

Zunächst einmal recht wenig. Denn wenn wir davon ausgehen, dass das ursprüngliche Problem die Reduktion des Schadstoff-Ausstoßes beim Dieselmotor war, dann handelte es sich dabei um ein „wohl definiertes“ Problem, wie es Herbert A. Simon nennt. Mit einem „eindeutigen Kriterium, um eine Lösungsalternative zu testen“.

Mit anderen Worten: Mit der Anzahl der Schadstoffpartikel haben wir ein Kriterium, mit dem bestimmt werden kann, ob eine Lösung richtig oder falsch ist.

Design Thinking wäre hier eine ungeeignete Herangehensweise.

 

Erweiterung des Problemraums

Doch nun haben zumindest einige Unternehmen offenbar den Problemraum erweitert. Nicht mehr die Schadstoffreduzierung, sondern das Überstehen eines Testverfahrens war die neue „Challenge“. Jetzt lässt sich darüber diskutieren, ob das nicht immer noch ein „wohl definiertes Problem“ ist. Die manipulative Software ist schließlich nur eine mögliche Lösung. Die Manipulation von Menschen, von Dokumenten usw. wäre immerhin genauso denkbar gewesen. Was aber auf jeden Fall dabei passiert ist: Durch die Umformulierung des Problemraums hat sich auch der Lösungsraum verändert und vergrößert.

The „widened“ Double Diamond

 

Das heißt: Abhängig davon, wie wir den Problemraum aufspannen und konstruieren, erschaffen wir unterschiedliche Lösungsräume, in denen völlig andere Ideen möglich werden.

Tilmann Lindberg beschreibt das in seiner Dissertation über „Design-Thinking-Diskurse“ so: „Das Lösen von schlecht strukturierten Problemen (also Designen) unterscheidet sich somit von den algorithmischen Lösungsprozessen wohl definierter Probleme darin, dass sie die Suche nach Informationen und Wissen (Anm.: Research!) mit beinhalten. Die Strukturierung des Problemraums (…) ist folglich ein wesentlicher Teil des Lösens schlecht strukturierter Probleme (und nicht die Voraussetzung).

Hinein- und Heraus-Zoomen

Mit dem Bekanntwerden der Dieselaffäre hat sich der Problemraum in der öffentlichen Diskussion noch einmal grundlegend erweitert. Die Problemstellung veränderte sich vom Schadstoffausstoß des Motors zur Schadstoffbefreiung der Innenstädte. Jetzt geht es nicht mehr um Filter und AdBlue-Einspritzung, sondern um Mobilitätskonzepte. Und zuvor scheinbar völlig Abwegiges wie ein für alle kostenloser öffentlicher Nahverkehr wird Teil des Lösungsraums eines „wicked problem“, also eines „schlecht definierten“ Problems mit hoher sozialer Komplexität: jetzt ein ganz klarer Fall von Design Thinking.

Das Hinein- oder Herauszoomen aus Problemen eröffnet uns also jedes Mal neue Sichtweisen, die wir im Designprozess konsequent nutzen sollten, um uns damit neue Lösungsräume zu eröffnen. Eine wunderbare Veranschaulichung dieser unterschiedlichen Perspektiven ist immer noch der 1977 von Charles und Ray Eames für IBM erstellte Kurzfilm „Powers of Ten. A film dealing with the relative size of things in the universe and the effect of adding another zero.

Die Süddeutsche Zeitung hat in ihrer letzten Wochenendausgabe noch weiter herausgezoomed: „Die Mobilitätsdebatte ist zu stark zentriert auf die Bedürfnisse der Städter, für die das Auto immer weniger ein taugliches Fortbewegungsmittel ist. (…) Doch diese Debatte geht an den meisten der acht Milliarden Menschen auf der Welt vorbei. Mag der individuelle Autoverkehr in der Stadt ein Konzept von gestern sein. Auf dem Land gilt das nicht. Die Automobilität der Menschen ist nicht am Ende, wie es manchem Städter erscheinen mag, sie steht erst am Anfang. (…) Dem Bauern in der Mongolei, in Indonesien oder in Afrika, der nicht weiß, wie er seine Früchte zum nächsten Markt transportieren soll, hilft kein selbstfahrender Elektro-Smart von Daimler, auch kein Fancy-Tesla aus dem Silicon Valley, weil er sich das nicht leisten kann und für solche Gefährte die komplizierte Infrastruktur fehlt.“ Wieder ein anderer Problemraum!

Problem und Lösung sind eins

Unser Problemraum ist also nichts Naturgegebenes, sondern wir selbst legen ihn fest. Im Designprozess des HPI beginnt dies mit dem unscheinbaren ersten Schritt des „Understand“. Die Formulierung unserer Design Challenge bestimmt also bereits die Möglichkeiten, aber auch die Restriktionen unseres späteren Lösungsraums. Problemformulierung und Lösungsfindung lassen sich nicht trennen. Genau das ist das Charakteristikum des Designens – also das „Design Thinking“.

Design Thinking Prozess nach HPI

So sieht das auch Tilmann Lindberg: „Die soziale Komplexität von Wicked Problems führt zu einer Vielfalt an Perspektiven auf das Problem, dessen Ursachen und Lösungsmöglichkeiten, so dass der Versuch einer Problemformulierung hochgradig selektiv ist. Wicked Problems lassen sich daher nicht umfassend und abschließend beschreiben. Wie Rittel zusammen mit Webber darstellt führt diese Eigenschaft zu dem Resultat, dass sich Problemformulierung und Lösungsfindung nicht trennen lassen. Jeder Versuch, das Problem zu definieren, definiere ebenso Annahmen über geeignete Lösungen. (…): ‘To find the problem is […] the same thing as finding the solution; the problem can’t be defined until the solution has been found. The formulation of a wicked problem is the problem!’

 

Fazit: Auch beim „Understand“ werden wir trotz sorgfältiger Überlegungen nicht immer richtig liegen. Wobei es – genau genommen – ein „richtig“ und „falsch“ hier ja auch gar nicht gibt. Design Thinking beginnt aber schon bei der Problemstellung. Und es ist deshalb nur konsequent, wenn wir auch zum „Understand“ und zur Formulierung unserer „Design Challenge“ wieder iterativ zurückkehren und sie verändern – und wenn wir „nur eine Null dranhängen“, wie es Charles und Ray Eames gezeigt haben.

Das kommt uns heute und in der Form, wie wir Projekte aufsetzen und wie wir generell arbeiten, noch ungewohnt vor. Aber das kann sich ja ändern …